HANNA UND DAS GEHEIMNIS


Es war Mitternacht. Hanna schlüpfte mit einem prüfenden Blick, auf die Uhr aus dem Bett. Sie lief den kalten Flur entlang und trat durch die Tür ins Freie. Die kühle Nachtluft traf sie im Gesicht. Ihr war unheimlich zumute, trotzdem ging sie weiter. Etwas war nicht in Ordnung. Sie spürte es genau. Auf halbem Weg heulten drei Wölfe. Wie echt sie klangen. Aber Hanna kannte sich mit den Wölfen so gut aus, dass sie wusste, dass es nicht echte sein konnten.

Hanna hatte keine Eltern, keine Geschwister und keine Freunde. Sie hatte FRIDOLIN!
Fridolin war ein Werwolf, ein besonderer Werwolf. Nicht, wie man ihn sich vorstellt: er war jung und gutmütig wie kein anderer. UND: Fridolin war Hannas einziger Freund. Mit ihm lebte sie zusammen im Kinderheim. Keiner wusste von Fridolin. Wer glaubt auch schon an Werwölfe? Außerdem wollte sie den anderen keine Angst einjagen.

Hanna war beunruhigt. Die Wölfe heulten! Sie beschleunigte ihre Schritte, sie fing sogar an zu laufen und sie war froh, als sie im Dickicht die Falltür erblickte. Schnell fand sie den versteckten Eingang. Doch was war das für ein Empfang? Die Bilder waren herab gerissen, die Bücher, die vor den Regalen lagen, waren mit Blut beschmiert, und von Fridolin war keine Spur. Hanna durchsuchte alles. Er war weg. Als sie traurig nach Hause gehen wollte, trat sie aus Versehen auf ein Buch. Ein Zettel kam zum Vorschein. Hanna hob ihn hoch und las:
Ich, der große Zauberer Farid, habe Fridolin entführt und habe alle Bücher durchsucht, um das eine, das unnennliche Buch zu finden. Leider habe ich es nicht gefunden! Aber ich weiß, dass DU es weißt! Bring mir das Buch und du bekommst Fridolin wieder!  Hanna sah sich um. Wo konnte Fridolin sein? Da, ganz unten, da stand doch noch etwas! Sie beugte sich wieder über den Zettel und las weiter: P.S.: Folge dem Wolfsgeheul! 
Hanna wusste tatsächlich, wo das unnennliche Buch zu finden war. Gut, dass sie sich auch noch erinnern konnte, von welcher Richtung das Geheul gekommen war. Um Fridolin zurück zu holen, musste sie also Farid das Buch anvertrauen. Ob das klug wäre, daran zweifelte sie. Wer Leute entführt, der wird auch mit dem Buch nicht gut umgehen. Aber Fridolin war gefangen! Und für Fridolin würde Hanna alles geben, das wusste Farid. Was sollte sie also tun? Nach langem überlegen ging sie schließlich zu dem schwarzen Regal, schob es zur Seite und holte es heraus, das unnennliche Buch! Mit ihm in der Hand trat sie wieder ins Freie. Die Wölfe heulten wieder und sie folgte dem Geheul. Mit der Zeit merkte sie, dass sie den Ort kannte! Und sie wusste auch, woher! Als sie zum ersten Mal hier war, war Hanna noch sehr klein. Bei einem Ausflug mit ihren Kameraden hierher, hatte sie Fridolin kennen gelernt. Und niemand hatte es bemerkt!

Es dämmerte schon, und Fridolin fasste wieder eine Spur Hoffnung. Die Angst war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber da! Er hörte Stimmen! Die eine stammte von Farid. Aber die andere… Ja! Das war HANNA!!

Das Mädchen wurde unsanft zu ihm ins Verlies gestoßen. "Da! Hier hast du deinen Freund!" Mit diesen Worten schloss Farid die Tür. "Fridolin!", schrie Hanna. „Hanna, du hast ihm doch nicht etwa das Buch gegeben!?", heulte Fridolin zurück. "Ich konnte dich doch nicht hier sitzen lassen!", entgegnete Hanna. Hanna hatte das Buch tatsächlich übergeben. Das unnennliche Buch, von dem sie nicht einmal wusste, was eigentlich drinnen stand. Beide waren sich einig, dass, es sich um etwas Wertvolles, Einzigartiges und mit Sicherheit Gefährliches handelte. WAS konnte drinnen stehen? "Ein Rezept für Gift?", fragte Hanna. "Nein! Wohl eher Zaubersprüche,  mit denen man zum Beispiel böse Kobolde herzaubern kann! Böse Kobolde sind eine Seltenheit und sehr gefragt!", meinte Fridolin. "Oder es steht darin, wie man Drachen dazu bringt, einem zu gehorchen! Oder das Rezept für einen Königstrank…", rätselte Hanna weiter.  "Was ist ein Königstrank?", wollte Fridolin wissen. "Das weiß ich von meiner Urgroßmutter", erzählte Hanna, "sie hat mich in so manches Geheimnis eingeweiht. Leider ist sie schon lange tot. Wer den Königstrank trinkt, kann anderen befehlen! Jeder muss gehorchen. Wer es nicht tut, wird schwer krank. Gesund kann man erst wieder werden, wenn man dem vergibt, der den Trank getrunken hat. Und das hat noch kaum jemand geschafft." - "Bestimmt ist es der Königstrank!", jammerte Fridolin, "und Farid wird uns befehlen, dass wir hier für immer drinnen im Verlies bleiben müssen." Ängstlich zeigte Hanna auf einen Spalt in der Tür. "Und was ist DAS?" - "Na hier bekommen wir dann unser Essen", klagte Fridolin. In dem Moment wurden tatsächlich ein paar Brote durch die Tür geschoben. Hanna nahm vorsichtig eines davon in die Hand. Sie zögerte aber noch. "Ob es essbar ist?", fragte sie. Fridolin riss die Augen auf. "Das ist…. Das ist… Kora-Brot!!! Am Anfang schmeckt es scheußlich, vor allem für dich! Es ist Wolfskost! Aber es sättigt besser als alles andere!" Hanna nahm ein Brot nach dem anderen. Sie hatte großen Hunger. Plötzlich erstarrte sie. Da lag ein Schlüssel unter dem letzten Brotstück! Denselben Schlüssel hatte sie auch an Farids Schlüsselbund gesehen! "Wir sind gerettet!", schrie sie und steckte ihn sofort in das Schlüsselloch. Doch nein! Er passte leider nicht. Enttäuscht, traurig und wütend warf sie den Schlüssel gegen die Wand. Fridolin tröstete sie: "Mach dir nichts draus. Wir kommen schon irgendwie raus!" Aber seine Stimme klang nicht recht überzeugend. Er drehte sich mutlos von Hanna weg. Plötzlich schrie Fridolin auf und zeigte aufgeregt zur Tür. Hanna drehte sich erschrocken um. Da lag noch ein Schlüssel, ähnlich dem anderen! Auf der Vorderseite prangte ein goldener Buchstabe: V "Hanna, schnell, probier diesen Schlüssel hier!", rief Fridolin aufgeregt. "Wieso sollte dieser hier passen? Es ist doch derselbe wie vorher!" Hanna war den Tränen nahe.  Fridolin schüttelte den Kopf: "V ! V wie Verlies! Was sollte das V denn sonst bedeuten?" Hanna hob den Schlüssel auf und ging zur Tür. Gerade wollte sie den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken – da  war es plötzlich verschwunden! Erschrocken drehte sich Hanna zu Fridolin um. Der lachte nur: "Der Schlüssel-Zauber!! Farid lässt keinen Gefangenen einfach so laufen! Er treibt sein Spiel mit uns! Du musst das Schlüsselloch suchen!" Nun war auch Hanna davon überzeugt, dass sie bald frei sein würden. Gemeinsam suchten sie das Schlüsselloch, das sie auch bald fanden. Erleichtert stießen sie die Tür auf. "Wo sind wir hier?", fragte Hanna. "Schau, da drüben!" Fridolin zeigte auf eine weitere Tür. Sie stand offen. "Zauberzimmer. Eintritt verboten", stand da auf einem Schild. Vorsichtig stießen sie die Tür auf. Wie sie quietschte! Der Raum war leer, Farid war nicht da. Hanna blickte sich staunend um. Überall standen Regale mit Zauberbüchern, Rezepten, Zutaten und Zaubertränken. In der Mitte stand ein Tisch. "Fridolin! Unser Buch!", rief Hanna. "Jetzt können wir das Geheimnis lüften!", freute sich Fridolin. "ielleicht könnt ihr das, aber heraus könnt ihr nicht! Nie mehr!!", hörten sie plötzlich eine hämische Stimme hinter sich. Als sie sich umdrehten, sahen sie gerade noch, wie Farid hinter ihnen die Tür mit einem Zauberspruch verschloss. "Ein Schlüssel hilft nun nicht, Fridolin! Bitte mach was! Schnell! Sonst sind wir für immer verloren!" Fridolin schleppte das Buch heran. "Hanna! Schnell, nimm das Buch in deine Hände!" Als Hanna das Buch berührte, flatterten die Seiten auseinander. Eine Seite blieb offen. "Königstrank" stand da. Fridolin las. Er sah sich um. Gott sei Dank, alles war da! Fridolin holte sich die Zutaten und machte den Trank. Dieser war zum Glück schnell fertig. Hanna nahm den ersten Schluck. Gerade als Fridolin den Krug ansetzte,  kam Farid herein. "Farid, du lässt uns sofort gehen!", befahl Hanna. Da Farid nicht mehr genug Macht hatte, musste er zur Seite treten.
Schnell liefen Hanna und Fridolin aus dem Schloss und zum Kinderheim – direkt in die Arme von Margarete, der Erzieherin! Diese war vor Angst und Sorge ganz weiß im Gesicht. Hanna war 2 Tage verschwunden gewesen. "Wo warst du? Wer… Wer ist das?" Margarete deutete auf das kleine braune Tier an Hannas Seite. "Und was bedeutet dieses Buch hier?" Hanna lächelte: "Margarete, ich bin froh, dass ich wieder da bin. Meine Geschichte ist eine ganz besondere Geschichte.  UND: SIE IST EIN GEHEIMNIS!"  Margarete fragte nicht weiter. Sie nahm Hanna in den Arm. "Komm, gib deinem Hund Wasser. Er sieht durstig aus!" Hanna nickte.
"Ja, Fridolin bleibt für immer mein Geheimnis", dachte sie.


CATHARINA, 8 Jahre aus Wien, (2007)