WERWOLF
Ein Schmerzensschrei zerriss die Dunkelheit. Das junge Mädchen
sank auf die Knie. Tiefer Schmerz im Gesicht. Eine unsichtbare Gestalt
schien ihr die Haut abzuziehen. Ja, so fühlte es sich an. Langsam
tastete sich die Qual durch ihren Körper. Sie stützte sich
mit den Händen auf den Waldboden, um nicht den Halt zu verlieren.
Weiter breitete sich das verhasste Gefühl aus. Ihr Oberkörper
schrumpfte. Sie schloss die Augen. Die Beine verkürzten sich. Die
Sohlen aber wuchsen. Überall begann Fell zu sprießen.
Verfilzt und grau. Wie oft hatte sie diese Verwandlung bereits
durchgemacht?
Sie wusste es nicht. Hatte aufgehört zu zählen. Der
Kiefer wurde länger und Reihen spitzer Zähne blitzten
flüchtig im Licht des Vollmondes auf. „Gleich ist es vorbei“,
dachte sie.
Gelbe Augen. Ihre Augen. Die eines Raubtiers. Sahen sich wachsam
um.
Dann richtete sie sich auf. Wendete ihr Gesicht dem Mond zu. Heulte.
Werwolfsprache. Ein Ruf aus der Dunkelheit erscholl als Antwort. Die
Wölfin setzte sich in Bewegung. Geschmeidig glitt sie durch die
Nacht. Die Sinne waren geschärft.
Rasch erreichte sie die ihr nur zu gut bekannte, von Efeu
überrankte Lichtung. Sie Sonnenstrahlen fielen wie ein Schleier
durch die Baumwipfel und umspielten die dicken Stämme. Neben
einigen Pilzen sprudelte ein klarer Bach, und überall wuchsen
Farne aller Art. Doch es war merkwürdig still. Kein Vogel
zwitscherte, kein Reh schritt über diesen wunderschönen Ort.
Kein Mensch wagte sich hierher. Denn das war er. Der Versammlungsplatz
der Werwölfe. Sie hockten stumm. Im Kreis, um einen
mit Moos bewachsenen Stein, auf dem besonders prächtiges Tier
saß. Roy. Das Fell war silbrig grau und seine pupillenlosen,
roten Augen starrten sie finster an.
„Du kommst spät, Emily“, knurrte er. „Wir wollten bereits ohne
dich auf Beutezug gehen.“ Ertappt sah Emily um sich. Alle starrten sie
aus geweiteten, gelben Augen an.
„Verzeihung, Roy“, sie atmete scharf ein,
„Ich wurde aufgehalten!“ Das stimmte zwar nicht, aber manchmal konnte
eine kleine Notlüge einen vor Schmerzen und Strafe bewahren.
„Gut“, Roy fletschte die Zähne, „Dann sieh zu, dass das
nicht noch einmal passiert!“ Emily nickte kaum merkbar.
„Folgt mir.“ Vom Hunger angetrieben, hechtete Roy los. Leise
liefen die Anderen hinterher. Plötzlich blieb er stehen und
steckte witternd die Nase in den Nachtwind. Er lächelte. Zumindest
sah es so aus. Dieser Ausdruck verriet seine Freude.
„Menschen. Eine Frau und ein Mann – sie sind ganz nah…“ Und dann
bemerkten es auch die Anderen: Zwei Menschen hielten sich im Wald auf.
Emily fragte sich gerade, wer wohl so verrückt sein könnte,
in Nächten wie diesen durch den Wald zu spazieren, als Roy seine
dumpfe Stimme erhob:
„Wir töten die Frau, und sehen, ob es lohnt, den Mann zu
einem von uns zu machen – Los!“ Schnell sprangen sie los. Das Fell flog
im Wind und Emily wurde von einem wilden Freiheitsgefühl gepackt.
Da sahen sie das Pärchen. Arm in Arm schlenderten sie auf dem
kleinen Waldweg entlang. Emily visierte ihr Ziel an, und im
nächsten Moment schlug sie ihre Reißzähne in den Hals
ihres Opfers.
Die junge Frau schrie noch einmal auf, dann war es still.
Totenstill.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie noch schwach
die Schmerzen der Verwandlung und den süßlichen Geschmack
des Blutes der Frau. Emily leckte sich die Lippen.
Sie liebte das Gefühl von Ungebundenheit. Liebte es, ein Werwolf
zu sein und hasste es. Wegen der Schmerzen - und wegen Robin. Robin.
Vor sechs Jahren war er nach Carvington gekommen, um Werwolfjäger
zu werden, und nun durfte er endlich seinen Ersten erlegen. Emily
mochte ihn auf gewisse Weise, und mehr als dass, sie liebte ihn.
Fühlte sich zu jeder Stunde, auf seltsame Art zu Robin hingezogen.
Er war der Jäger, sie die Beute. Das war so. Immer schon.
Sie durfte es niemanden sagen, vor allem Roy nicht. Er würde es
nicht verstehen. Keiner würde es verstehen. Sie sollte Robin
hassen, ihn als Feind betrachten. Doch sie konnte nicht. Sie beschloss
ihn nicht mehr zu beachten, und nach kurzer Zeit galten alle Gedanken
ihm. So war es jedes Mal gewesen.
Eine quietschende, laute Stimme von draußen riss Emily abrupt aus
ihrer Tagträumerei: „Kommt alle her! Die Werwölfe haben zwei
neue Opfer gefunden!“ Emily schmunzelte. Natürlich wusste sie es
bereits, aber sie sollte sich lieber wie die anderen Bewohner neugierig
um Schwester Isabel scharren, um nicht aufzufallen. So etwas konnte man
sich in Carvington wirklich nicht erlauben: Pfarrer Crown war herzlos,
und bevor er ein Risiko einging, lies er lieber einen, oder zwei
Verdächtige töten.
Emily konnte Isabel nicht leiden: Die rechte Hand des Geistlichen
konnte es einfach nicht lassen, den neuesten Klatsch zu verbreiten und
dabei ein wenig zu übertreiben.
Rasch zog sie sich an und ging nach draußen.
Sie gab sich interessiert, hörte dem Geschwätz der
Nonne zu, das natürlich Unsinn war.
Als sie endete, brach ein wahres Wortgetümmel aus: Angehörige
weinten, Nonnen beteten laut, Männer verfluchten die Werwölfe
und Pfarrer Crown predigte über Gottlosigkeit.
„Seid ruhig!“, Robins Stimme hob sich laut und bestimmt über alle
anderen hinweg.
„Wenn der nächste Vollmond am Himmel steht, brechen die anderen
Jäger und ich auf – und zeigen diesen Biestern, wie süß
Rache ist.“
Zustimmende Wörter wurden gerufen. Robin entfernte sich.
Emily beschloss ein wenig im Wald spazieren zu gehen.
Sie war noch gar nicht weit gekommen, da spürte sie eine Hand auf
ihrer Schulter. Erschrocken drehte sie sich um.
„Du solltest nicht alleine durch den Wald gehen.“ Robin. In Emily
entstand eine Wallung an Glücksgefühlen. Ihre wölfischen
Instinkte verrieten ihr, dass er Gefallen an ihr fand. Er gab sich
gelassen, doch seine Augen offenbarten seine Anspannung. Ihr
Glücksgefühl verwandelte sich Teilweise in Vorsicht um.
„Nein“, dachte Emily „Nein, verfall ihm jetzt bloß nicht!“
Robin beugte sich sachte zu ihr herab und küsste sie auf ihre
Lippen.
„Zu spät…“, meldete ihre innere Stimme.
Viele Tage waren vergangen, der Vollmond stand hoch am Himmel, und die
Werwölfe versammelten sich. Roy dachte sich einen Plan aus, um die
Jäger zu in die Irre zu führen, doch Emily hörte nicht
zu. Sie war in Gedanken bei Robin. Spielte noch einmal ihr letztes
Treffen durch, und was er zu ihr gesagt hatte. Drei schlichte Worte:
Ich liebe dich.
„Gut, und Emily spielt den Köder, wie immer.“,
verkündete Roy. Emily hatte keine Lust, aber keiner Widersprach
dem Anführer. Das war schon immer so. Deshalb nickte sie einfach
nur. Dann liefen sie los. In die Nacht hinein. In der Nähe
hörte man bereits die Jäger. Emily schlich sich nahe heran
und beobachtete sie. Beobachtete Robin.
Ganz hingerissen, vergas sie für einen Moment den
Wolfskörper, in dem sie feststeckte und wagte es, die Lichtung zu
betreten.
Gerade, als ihre Lippen die Worte: „Robin“ formten, und nur ein leises,
kehliges Knurren zu vernehmen war, erinnerte sie sich der Gefahr.
Doch im nächsten Moment hatten die Jäger hatten sie bereits
umkreist. Robin legte den giftigen Todespfeil in seine Armbrust und
visierte Emily an.
„Robin“, wollte sie sagen „Robin, ich bin es, Emily!“, doch sie konnte
nicht.
Er spannte die Sehne – und schoss ab.
Im nächsten Moment spürte sie einen brennenden Schmerz in
ihrer Flanke. Das Gift vermischte sich mit ihrem Blut und floss durch
den ganzen Körper.
Die anderen Jäger scharrten sich um sie, denn es war Brauch, dem
Tier beim sterben zuzusehen. War es erst einmal tot, nahm der Kadaver
Menschliche Gestalt an, und man sah, wer der Werwolf gewesen war. Die
Leiche wurde anschließend gesalbt und verbrannt, damit sie, laut
Pfarrer Crown, die ewige Ruhe fand.
Schmerzen durchströmten Emilys Körper. Sie schrie vor Qual.
Doch was für ein Laut war das? Ein klägliches Jaulen in der
Stille. Zuerst begann ihr gesamter Körper zu glühen. Schmerz.
Qual. Elend.
„Bitte, lass mich bald sterben“, schrie sie innerlich.
Einer der Jäger, es war Svenn, spuckte auf die Erde und sah Emily
missbilligend an. „Mörder!“, zischelte er wütend und trat mit
voller Kraft auf ihren Brustkorb.
Sie spürte, wie sich die Schmerzen des Gifts, mit denen der
gebrochenen Knochen vermischten. Wieder schrie sie. Schließlich
spürte sie, wie ihr Herz langsam erkaltete. Wie erleichternd. Die
Qualen hatten ein Ende. Sie lächelte und hauchte den letzten
Lebensatem aus.
Langsam verschwanden die wölfischen Züge und offenbarten den
geschundenen Mädchenkörper. Svenn lachte zufrieden.
„Sieh an! Emily. Wer hätte das gedacht?“ Er klopfte Robin
brüderlich auf die Schultern.
„Für den Anfang, gar nicht so schlecht!“
Doch Robin hörte ihn nicht. Er zitterte. Starrte auf Emilys
Körper, seine große Liebe. Sein Kopf war leer. Es herrschte
Stille. Schock. Nur ein Satz polterte durch seinen Geist:
„Ich bin schuld.“ Ihm wurde schwindelig und übel. Er wollte
aufwachen, und sehen, dass alles nur ein Traum war, dass sie noch
lebte.
Doch es war zu spät. Seine Augen waren gerötet. Und war es
der Schmerz, oder die paar Gläser Bier, die er vorher im Wirtshaus
von Carvington getrunken hatte, er verlor die Kontrolle über seine
Arme. Sie wirbelten herum, packten einen in Gift getränkten Pfeil
und stießen ihn ihm bis zum Ende des Schaftes in seine Brust.
Es wirkte schnell. Menschen haben nicht so viel Energie, wie
Werwölfe.
Er sank zu Boden. Und flüsterte noch einige letzte Worte.
Dann stürzte auch er in die Dunkelheit.
Rica, 15 Jahre (Wien)